
15. August 2019:
Einen weiteren Offenen Brief haben die Wald- und Umweltexperten an Umweltministerin Svenja Schulze gerichtet, der direkten Bezug auf den vorangegangenen Brief an das BMEL unter Julia Klöckner nimmt. Hier der Wortlaut:
Bundesministerium für
Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU)
Ministerin Svenja Schulze
10117 Berlin
15. August 2019
Experten, Waldbesitzer und Verbändevertreter fordern eine ganzheitliche – das
Waldökosystemmanagement umfassende - Ökosystempolitik
Sehr geehrte Frau Ministerin Schulze,
das derzeitig zu beobachtende Absterben von Bäumen, von ganzen Nadelbaum-Forsten, aber auch
von aktuell oder in der Vergangenheit bewirtschafteten Laubmischwäldern ist besorgniserregend.
Es führt uns nicht nur vor Augen, dass die klimawandelgetriebenen Extremwetterlagen immer mehr
Arten und Ökosysteme über Kippunkte treiben, sondern auch, dass konventionelle Modelle der
Ökosystembewirtschaftung auf den Prüfstand müssen. Wir haben als große Gruppe von Vertretern
aus Wissenschaft und Forstpraxis, von Umweltverbänden und waldbezogenen Bürgerinitiativen
sowie Autoren und Waldexperten Frau Bundesministerin Klöckner am 10. August 2019 in einem
Brief aufgefordert, von der allein auf Holzproduktion fokussierende Forstwirtschaft Abstand zu
nehmen und dem Wald in Deutschland endlich ein angemessenes Ökosystemmanagement
angedeihen zu lassen. Wir haben angemahnt, die Fehler der Vergangenheit anzuerkennen und
aufzuarbeiten. Zudem haben wir vor den Risiken gewarnt, die sich aus einer interventionistischmechanistischenHerangehensweise an das ‚Aufräumen und Aufforsten‘ der geschädigten Wälder ergeben.
Die vom BMEL und von Forstministerien einiger Bundesländer gemeinsam herausgegebene
Moritzburger Erklärung offenbart konzeptionell-fachliche Schwächen, etwa wenn von einem
‚klimatoleranten‘ Wald gesprochen wird, aber auch wenn zum einen der Wald als überaus bedroht
dargestellt wird und zum anderen die Holzverwendung im Rahmen der Charta für Holz 2.0 gesteigert
werden soll. Es käme einer ökologischen Katastrophe gleich, wenn demnächst ggf. auf Tausenden
von Quadratkilometern großen Flächen kahlschlagsartige Sanitär- und Räumungshiebe durchgeführt
würden. Böden würden langfristig durch Befahrung und mikroklimatische Veränderungen nachhaltig
geschädigt, und die Neubildung von humus- und totholzreichen sowie Wasser speichernden Böden
würde unterbunden. Damit ginge erhebliches Potenzial für die ökosystembasierte
Klimawandelanpassung verloren, und es würde zur Beeinträchtigung sensibler Arten und Habitate
kommen.
Mit dem Aufforstungs-Aktionismus auf großen Flächen droht die Gefahr, dass neue, im Extremfall
invasive „Wunderbaumarten“ mit neuen Risiken und von anderen Kontinenten den Wald der Zukunft
formen sollen. Auch dies sollte verhindert werden. Grundsätzlich droht im Rahmen der groß
angelegten Wiederaufforstung eine substanzielle Verschwendung von Steuergeldern, während
gleichzeitig die Möglichkeiten einer dynamischen Anpassung der Waldökosysteme im Rahmen von
ökologischen und evolutiven Prozessen von vornherein ignoriert, ausgeschlossen bzw. unterbunden
werden.
Als Ministerin für Umwelt tragen Sie die Verantwortung dafür, dass ein aktionistisches Degradieren
von großen Waldökosystemen verhindert wird. Es gilt, Sorge zu tragen, die Einhaltung des
Bundesnaturschutzgesetzes zu gewährleisten. Gemäß §1 des Gesetzes sind bekanntlich u.a. die
biologische Vielfalt, die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts einschließlich der
Regenerationsfähigkeit und nachhaltigen Nutzungsfähigkeit der Naturgüter auf Dauer zu sichern.
Zur dauerhaften Sicherung der Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts sind
insbesondere die räumlich abgrenzbaren Teile seines Wirkungsgefüges im Hinblick auf die
prägenden biologischen Funktionen, Stoff- und Energieflüsse sowie landschaftlichen Strukturen zu
schützen und v.a. auch die Böden so zu erhalten, dass sie ihre Funktion im Naturhaushalt erfüllen
können. Die großmaßstäbige Beräumung und Wiederaufforstung von geschädigten Waldflächen
würden Waldböden nachhaltig schädigen und drohen auch die nationale Biodiversitätsstrategie
sowie internationale Verpflichtungen Deutschlands zu konterkarieren.
Wir fordern Sie deshalb auf, sich dezidiert und öffentlich zur aktuellen Waldkrise zu äußern und für
ein modernes und ganzheitliches Ökosystemmanagement einzutreten, wie es seit vielen Jahren im
Sinne des Ökosystemansatzes des Übereinkommens über die biologische Vielfalt auch in
Deutschland angewendet werden soll. Dies bedeutet, dass das Waldökosystemmanagement nicht
allein aus der Perspektive der Holzwirtschaft und unter alleiniger Federführung des BMEL erfolgen
kann. Zudem muss das Waldökosystemmanagement mit einem angemessenen Management der
Gesamtlandschaft einschließlich der Wasserressourcen integriert werden und sektorale
Beschränkungen hinter sich lassen. Es ist Zeit, in Deutschland das Leitbild einer ganzheitlichen
ökosystembasierten nachhaltigen Entwicklung zu verfolgen. Die haushaltenden natürlichen
Ökosysteme sind unsere Lebensgrundlage und durch die Bereitstellung einer Vielzahl von
Ökosystemleistungen Garanten von Lebensqualität für die Bevölkerung in Deutschland und im
Angesicht des Klimawandels ein zentraler Pfeiler nationaler Sicherheit.
Abgesehen von der Einführung einer ganzheitlichen Ökosystempolitik fordern wir die Unterstützung
der minimalen Forderungen, die sich auf Grundlage moderner Erkenntnisse zum
Waldökosystemmanagement ergeben. Diese wurden bereits Ministerin Julia Klöckner unterbreitet:
1. Auf Kalamitätsflächen (schwerpunktmäßig im öffentlichen Wald!) ist die Wiederbegründung
durch natürliche Waldentwicklung (Sukzession) u.a. mit Pionierbaumarten zu bewirken. Im
Privatwald sind Sukzessionen zur Wiederbegründung gezielt zu fördern. Größere Kahlflächen
sollten mit maximal 400 bis 600 Großpflanzen heimischer Arten pro Hektar bepflanzt
werden, um gleichzeitig Sukzession zuzulassen.
2. Auch zur Förderung von Sukzession sollten die Flächen nicht mehr vollständig und nicht
maschinell geräumt werden; es ist so viel Holz wie möglich im Bestand zu belassen (zur
Förderung einer optimalen Boden- und Keimbettbildung, des Bodenfeuchte-Speichers sowie
eines natürlichen Verbiss-Schutzes). Im Privatwald sollte der Nutzungsverzicht auf den
Kalamitätsflächen gezielt gefördert werden, nicht zuletzt aus ökologischen Gründen und um
den Holzmarkt zu entlasten.
3. Bei der Förderung von Wiederbegründungs-Pflanzungen im Privatwald: Vorrang von
standortheimischen Baumarten (aus regionalen Herkünften); weite Pflanzabstände wählen,
um der Entwicklung von Pionierarten ausreichend Raum zu lassen.
4. Für die Zukunftswälder: Durchforstungen minimieren (low-input-Prinzip), Vorräte durch
gezielte Entwicklung hin zu alten dicken Bäumen aufbauen, Waldinnenklima schützen/
Selbstkühlungsfunktion fördern (- sollte höchste Priorität haben wegen des rasch
fortschreitenden Klimawandels!), Schwersttechnik verbieten, weiteren Wegebau und -
ausbau unterlassen, natürliche selbstregulatorische Entwicklungsprozesse im
bewirtschafteten Wald sowie auf (größeren) separaten Flächen im Sinne eines
Verbundsystems zulassen und fördern; Schalenwilddichten drastisch reduzieren (Reform der
Jagdgesetze).
5. Wie im Bereich des seit den 80er Jahren etablierten Ökolandbaus sollte die Krise unserer
Wälder heute Anlass sein, mindestens zwei bestehende forstlich arbeitende Hochschulen in
Hochschulen für interdisziplinäres Waldökosystemmanagement umzuwandeln, ein Beitrag
nicht nur zur Fortentwicklung der Forstwissenschaft und Forstwirtschaft in Deutschland,
sondern auch von globaler Bedeutung! Das Ziel muss es sein, die Holzerzeugung durch
weitgehend natürliche Waldproduktion zu leisten und hier in Deutschland, dem Geburtsland
der Forstwissenschaft, den Anfang damit zu machen.
Besonderer Handlungsbedarf ergibt sich auch im Kontext einer zusehends verwirrten
Klimaschutzargumentation im Zusammenhang mit dem Wald in Deutschland. Es bedarf einer
grundlegenden Studie, die die ehrlichen Kohlenstoffbilanzen und sämtliche Unsicherheiten bei der
Modellierung von Kohlenstoffspeicherszenarien offenlegt. Die Debatte basiert momentan v.a. auf
Modellierungsergebnissen, welche keine Klimawandelwirkungen auf den Wald einbeziehen und
zukünftiges Baumwachstum aus Befunden in der Vergangenheit ableiten; zudem werden
Kohlenstoffspeicherung und verringerte Klimawandelsensitivität in alten Wäldern unterschätzt. Das
BMU sollte sich vehement für die Ausweisung von Klimaschutzwäldern ohne jede forstliche Eingriffe
in ausreichender Größe (> 10 km²) zur Erforschung von Stabilität der Waldgesellschaften,
Standortanpassungen und Artenverschiebungen im Klimawandel bei gleichzeitiger Erfüllung der
Wald-Ziele der Nationalen Biodiversitätsstrategie (Wildnis auf 2% der Landesfläche, Naturwälder auf
5% der Waldfläche bis 2020) einsetzen.
Leitmotto: SYSTEMISCHES WALDÖKOSYSTEM-MANAGEMENT STATT HOLZFABRIKEN
Die Unterzeichner
Wilhelm Bode (Autor und vormals Leiter der Saarländischen Forstverwaltung; Leit.Min.Rat a.D.) - Dr. Lutz Fähser (Forstamtsleiter i.R., Lübeck) - Prof. Dr. Pierre Ibisch (Direktor Centre for Econics and Ecosystem Management an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung, Vorstand Deutsche Umweltstiftung, Vorstand European Beech Forest Network) - Dr. Siegfried Klaus (AG Waldnaturschutz im NABU Thüringen) - Prof. Dr. Hans D. Knapp (DirProf.a.D., Succow Stiftung, Vorstand European Beech Forest Network, EuroNatur) - László Maraz (Koordinator Dialogplattform Wald/ AG Wälder, Forum Umwelt & Entwicklung) - Jörg Sommer (Vorstandsvorsitzer Deutsche Umweltstiftung) - Knut Sturm (Forstamtsleiter, Stadtwald Lübeck ) – Dr. Torsten Welle (Naturwald Akademie)